Wie erziehe ich mein autistisches Kind?

Ein Ratgeber für verzweifelte Eltern

Einführung

Autisten sind keine Heiligen – ich denke, über diesen Punkt sind wir uns schnell einig. Sie sind weder böse noch verrückt und nur in seltenen Fällen unzurechnungsfähig.
Doch was tun, wenn die Diagnose kommt? Wenn plötzlich die Eltern ihrem Kind mehr Aufmerksamkeit schenken, als es ihm vielleicht lieb ist? Und wie wird das Kind darauf reagieren? Wie soll ich mich verhalten, wenn das Kind plötzlich austickt? Diese Fragen stellen sich viele Väter und Mütter überall in Deutschland viele Male am Tag. Sie wissen nicht, was sie tun sollen.
Darum habe ich diesen kleinen Ratgeber zusammengestellt. Er enthält meine eigenen persönlichen Erfahrungen mit Verhalten bei autistischen Kindern und Jugendlichen. Ich hoffe, diese Zeilen geben einigen von Ihnen seelische Unterstützung und Hoffnung, gegen die – zum Teil – grausame und unverständliche Welt direkt vor unserer Wohnungstür. Allerdings übernehme ich keine Verantwortung bei falsch interpretierten Anwendungsmöglichkeiten!

 

Das Alter

Das Alter, in dem jemand erfährt, dass sein sonderbares Verhalten den medizinischen Begriff „Autismus“ hat, hat großen Einfluss auf die weitere Entwicklung dieses Menschen. Je früher man es erfährt, desto größere Auswirkungen hat es für alle Beteiligten, denn je eher kann das Kind richtig gefördert werden. Denn nicht nur der oder die Autist(in) müssen sich fortan umstellen, sondern auch die betroffenen Geschwister und Erziehungsberechtigten.

 

Kindergarten

Im Kindergarten werden meistens nur die extrem auffälligen und unmissverständlichsten Abweichungen von der Norm erkannt und behandelt. Manche Autisten fallen als Kleinkinder häufig nicht so sehr ins Auge, weil Kindern insgesamt eine größere Toleranz entgegengebracht wird („Es sind doch noch Kinder, lass sie mal machen.“). Schreien, Rennen, Tolpatschigkeit oder Hyperaktivität gelten in diesem Alter noch als relativ normal.
Dagegen gelten in dieser Zeit stille, zurückgezogene, „schüchterne“ Kinder, welche nicht mit anderen spielen wollen und sich außerhalb der Gruppe bewegen, als merkwürdig und damit als „auffällig“.

 

Die Grundschule

Nach dem Kindergarten beginnt bekanntlich der Ernst des Lebens. Nun sind die netten verständnisvollen Betreuerinnen nicht mehr da, sondern die Kinder werden vom Lehrer unterrichtet. Natürlich fängt alles hier noch sehr einfach an: Das ABC, Amateur-Englisch, Rechnen mit den Fingern wie 2 + 2 = 4, usw.: Wer da nicht mitkommt, gilt meistens zuerst nur als faul, und es wird nicht weiter hinterfragt.
Auch die Geschlechterrollen sind hier noch recht einfach gestrickt: Jungen und Mädchen dürfen ungezwungen miteinander spielen – was Teenagern später aberzogen wird. Da kommt erst das böse Erwachen…
Dann wird so langsam der Unterricht anspruchsvoller. Sport wird groß geschrieben: Wer als Torwart versagt, hat hinterher bei seinen Klassenkameraden schlechte Karten. Auch die Mädchen bewegen sich langsam aber sicher in Richtung „Rudel“ und sind immer seltener allein unterwegs („Meiner besten Freundin kann ich alles anvertrauen.“) Vielleicht haben sie ja in der Toilette ein geheimes Quartier. Wer weiß schon, was an diesem Gerücht dran ist…
Nicht zu vergessen die Mode und das Schminken. Auch die Jungen machen nun große „Fortschritte“, und es beginnen erste Lehrkurse in Sachen „Rock-Musik“ und „Kumpelschlagen“. Manche beginnen sogar schon mit dem Rauchen (insgeheim, was aber immer unverpönter gezeigt wird).
Wer nur (wie viele Autisten) in der ruhigen Bücherei herumhängt, sofern es eine gibt, ist schnell das „Opfer“ von Mobbing. Die Erwachsenen und Lehrer erkennen dies oft nicht sofort und freuen sich, wenn ein Kind Fleiß an den Tag legt.

 

Die weiterführende Schule

Nun entscheidet sich das Schicksal des Kindes an der Qualität seiner Noten. Zwei Fünfen? Hauptschule. Zwei Zweien? Gymnasium. Eine Mischung aus beiden? Zählt nicht – oder vielleicht Realschule. Und wer in mehreren Fächern Lernprobleme hat, geht auf eine Förderschule.
Hier sollten die Eltern sich sehr gut die neue Schule ansehen und mit den Lehrern über ihr besonderes Kind reden. Man sollte vorher abklären, dass nicht die Rabauken das Klassenzimmer beherrschen und dass „Brillenschlangen“, Sonderlinge und Autisten geschützt werden.
Wenn Ihr Kind ein neutraler Lehrerfreund ist, gilt es in den Reihen der Schüler als Verräter, ebenso wie Streber (die eigentlich wahren Loser dagegen gelten bis zu ihrem Abgang als Helden und als „cool“, da sie sich nichts vorschreiben lassen).
Der Einfluss der „coolen“ Jungs ist ebenfalls beachtlich. Ich habe mehre Male erlebt, dass die Stille und Konzentration im Klassenraum steigt und anhält, wenn der betreffende Klassen“king“ einmal krank ist (oder – was auch häufig vorkommt – schwänzt). Dabei darf ich nicht auslassen, dass die meisten Anpasser keine Alternative kennen: Lieber einmal beim Chaos beitragen, als selbst in die Situation des armen gemobbten Jungen zu landen, schlussfolgern die meisten richtig.
Ich selbst wurde einmal von einem Mitschüler gewarnt, als ich auf eine neue Schule kam: „Geh hier weg! Wechsle sofort die Schule! Du weißt nicht, wie die hier drauf sind!“ Später gehörte er zu einer Bande, welche jeden Schwachsinn mitmachte (etwa die Uhr im Raum zu verstellen). Ich gestehe, ich konnte sein Handeln irgendwie sogar nachvollziehen, da ich ja einmal erlebt hatte, wie er wirklich war. Zum Dank für diese Warnung lud ich ihn sogar zu meinem Geburtstag ein – und wechselte dann später aber doch noch die Schule.
Leider nicht früh genug: Vorher wurde ich noch von einem brutalen Mitschüler ohne Grund zusammengeschlagen! Aber genug davon: manche haben in dieser Zeit auch gute Freunde fürs Leben gefunden – ich selbst musste oft die Schule wechseln, was es schwer machte, sofort akzeptiert zu werden.
Glaubt mir, manchmal ist es einfach erträglicher, wenn man mal nicht so tun muss, als wäre einem der Unterricht egal, denn man hat dadurch die Chance, etwas individueller zu werden und zu seinen eigenen Gedanken zu stehen.

 

Der Beruf oder das Studium

Nun erreichen wir die Welt der erwachsenen Autisten und werden gesiezt. Gewöhnungsbedürftig, aber na ja! Die fachlichen Anforderungen werden immer anspruchsvoller, und der junge Mensch muss sich anstrengen, um mithalten zu können.
Wer jetzt auffällt, weil er noch keine Freundin hat, sollte sich sputen (meinen die anderen!). Auch Alkohol und Zigaretten sind nun ein wichtiges Statussymbol fürs Angesagtsein. Insgesamt wird das Reden in der Gruppe wichtiger als das Spiel mit den Muskeln: Ich würde in diesem Alter sehr an der Komunikation üben – ich weiß es aus eigener Erfahrung!
Jetzt sind wir alle Stationen der Ausbildung durchgegangen. Spätestens dann dürfte Ihr Liebling seine Diagnose erfahren haben – oder er musste den ganzen Weg als ziemlicher Sonderling zurückgelegt haben!
Im Gegensatz zu Jungen haben es Mädchen meistens etwas leichter, weil sie sich auch für Dinge interessieren dürfen, die nicht so „hip“ sind. Auch gehen Mädchengruppen nicht so körperlich aggressiv gegen andere vor wie Jungen – Intrigen und Manipulation sind dafür schon häufiger.

 

Reaktionen auf die Autismusdiagnose

Die Erkenntnis, ein Autist zu sein, kann unterschiedliche Reaktionen bei Ihrem Sohn oder Ihrer Tochter hervorrufen. Hier einige Möglichkeiten:

• Reaktion 1: Das Schlaraffenland:

Das Kind wird von vorne bis hinten im Hotel Mama verzogen und verwöhnt – als Entschuldigung für sein Leiden und als Entschädigung für alle seine bisherigen Strapatzen. Dadurch entgehen ihm spätere wichtige Eigenschaften wie gute Manieren und Durchhaltevermögen, aber auch Leistung und soziale Beziehungen können völlig fehlen, weil sich die Umwelt eben leider nicht ändert. Ich denke, ich war als Kind immer „ganz normal, unauffällig, pflegeleicht“- auch wenn meine Mutter das ganz anders gesehen hat – da war ich nicht so interessant wie der Junge, der immer als Rumpelstilzchen alles zerdepperte.

• Reaktion 2: Leugnen:

Meistens tritt diese Phase bei Teenagern oder Erwachsenen ein. Sie wollen nicht anders als die anderen sein, sie fühlen sich genauso „normal“ wie alle anderen. Sie wollen nicht in eine Schablone mit dem Stempel „autistisch“ gezwängt werden. Ich hatte lange Zeit diese Phase! Man wollte einfach nicht immer zu hören bekommen „Tony Atwood hat in seinem Buch geschrieben, dass alle Autisten den Hang zu (….) haben“. Außerdem ist man es gewohnt, an sich selbst zu arbeiten, auch wenn man nie völlig „unauffällig“ sein wird. Besonders Teenager wollen sich nicht immer helfen lassen. Das Abnabeln von den Eltern ist dementsprechend schwer.

• Reaktion 3: Vorteile:

Andererseits hat das Autistensein auch unleugbare Vorteile: Man bekommt manche Preisermäßigung durch den Behindertenausweis; man wird (in der Schule) dank eines Integrationshelfers weniger geärgert und bekommt auch viele Fehler weniger nachgetragen – dennoch könnte ich mich vor Gericht für meine Taten mit meinem Autismus nicht herausreden. Manchmal kann ich heute diese Vorteile auch genießen.

 

Praktische Ratschläge für Eltern

Zum Abschluss noch einige Tipps für Eltern zum Umgang mit ihrem autistischen Kind. Ich habe diese aus meiner eigenen Erfahrung zusammengetragen. Ich lege aber keine Garantie für sicheres Gelingen ein.

• Verziehen Sie Ihr Kind nicht, denn es muss lernen, mit Schwierigkeiten allein fertig zu werden. Versuchen Sie, Grenzen festzulegen, was ihr Kind auf keinen Fall tun soll.

• Hat Ihr Kind schwere auffällige motorische Probleme, versuchen Sie trotzdem, es sozial zu erziehen. Behindert zu sein, ist keine Garantie dafür, von anderen geliebt oder respektiert zu werden.

• Richten Sie einen privaten Rückzugsort für ihr Kind ein, wo es in Ruhe gelassen wird, sich wohlfühlt und sich vom anstrengenden Alltag erholen kann.

• Versuchen Sie, Ihr Kind zu einem Hobby zu animieren, bei dem es sich bewegt und ausnahmsweise mal den Computer stehen lässt, wie z.B. Karate, Aikido, Paddeln, Zelten, Bootfahren oder Reiten. Achten Sie aber nach einer gewissen Zeit darauf, ob ihm diese Tätigkeit wirklich gut tut bzw. ob es sich wohlfühlt, eventuell fürchtet es die Lehrer oder Leiter, welche sehr streng sind.

• Bringen Sie ihrem Kind bei, sich nach fehlerhaftem Verhalten oder einem Streit zu entschuldigen und für die Zukunft daraus zu lernen. Sie müssen es selbst aber auch tun, wenn Sie falsch liegen, als gutes Vorbild!

• Loben Sie – auch ganz kleine und langsame – Erfolge; nur nicht den Mut verlieren, Rückschläge sind natürlich und schmerzhaft. Versuchen Sie aber, nicht zu übertreiben; sehen Sie die Dinge unbedingt realistisch!

• Kinder brauchen Liebe und Verständnis, besonders in schwierigen Situationen, keine Geschenke – außer an Weihnachten oder Geburtstagen!

• Versuchen Sie, nicht nur an Vergangenes zu denken. Auch Autisten ändern sich – manchmal dauert es eben extrem langsam. Sehen Sie die heutige Realität!

• Respektieren Sie manche „Schrullen“ ihres Kindes einfach, egal, wie unsinnig Sie Ihnen erscheinen. Sie gehören eben zu Ihrem autistischen Kind. Und wenn sie sonst nicht weiter stören, ist es okay!

• Suchen sie die Vorteile oder Fähigkeiten ihres Kindes. Jedes Kind hat irgendwo seine besonderen Begabungen. Vielleicht lässt sich dadurch eine Zukunft aufbauen.

• Sagen sie Ihrem Kind immer, wenn es nervt oder Schwachsinn erzählt. Es ist besser, wenn es das von Ihnen hört als von Arbeitskollegen oder Klassenkameraden!