Frau Rose und Fräulein Unkraut

Es gab einmal einen wunderschönen Garten, in dem viele unterschiedliche Blumen lebten. Die bekannteste war Frau Rose. Sie war für die vielen Gartenparties verantwortlich, die im Sommer und im Frühling ganz besonders beliebt waren.

Am wenigstens geduldet war eine ältere Witwe namens Fräulein Unkraut. Sie und ihre ganze Familie galten in der Nachbarschaft als hemmungslose Schmarotzer. Alle, die sich richtig wichtig fühlten, vermieden unter allen Umständen jeden Kontakt zu ihr. Alle Pflanzen im Umkreis von drei Hecken – außer Frau Rose!

Sie sprach jeden Morgen nach dem Frühstück immer ganz ungeniert mit der älteren Dame und lud sie manchmal sogar am Nachmittag zu Wasser und Düngemittel ein. Darüber waren die anderen hochgewachsenen gut aussehenden Blumen ganz entsetzt. So etwas fanden sie nicht schicklich!

Untereinander begann ein Gerede über die Gründe: „Vielleicht ist Frau Rose schwer erkrankt und sie erhofft sich botanische Ratschläge von Fräulein Unkraut!“ vermutete Frau Veilchen.
„Frau Rose könnte auch ihrem verstorbenen Ehemann – der Rasenmäher hat ihn damals leider geholt – versprochen haben, dass sie mit der Irren redet!“, konterte der Farn mit besorgter Stimme. „Das wird ein böses Ende nehmen!“ warnte der Flieder. „Hört auf meine Worte! Jemand wird für diesen Unsinn Blätter und Blüten lassen!“
Doch was auch immer der Grund war, Frau Rose selbst schwieg sich aus. Sie lächelte immer nur wissend, wenn die Nachbar meinten, sie könnten ihr die Wahrheit sagen, sie würden ihr helfen, worin auch immer die Schuld bestehe. Die Nelken versuchten sie mit frischer Erde zu bestechen. Die Heidelbeere sah immer häufiger nach Blattläusen und erwartete dafür etwas im Gegenzeug. Doch keiner von ihnen brachte sie dazu, ihre Neugier zu befriedigen und etwas über ihren Kontakt zu Fräulein Unkraut zu berichten. Da wurde die Pflanzengemeinschaft grob und ungemütlich.

Bisher hatten sie immer Frau Rose für die geschädigte arme Seele gehalten, die in der Gewalt von Fräulein Unkraut war und ihr mit Gedeih und Verderben ausgeliefert war. Doch nun, angeregt durch geschickt gestreute Vermutungen des alten Löwenzahns, der sich bald in eine Pusteblume verwandeln würde und deshalb schlecht gelaunt war, kam die Überzeugung auf, Frau Rose würde einen Komplott gegen die gesamte Nachbarschaft schmieden. Der Lavendel warnte vor einer riesigen Invasion der Unkräuter!

Bei einer privaten Zusammensitzung in der Nähe der angrenzenden Gärten wurde einstimmig beschlossen, dem Spuk ein Ende zu bereiten! Die besonders hübschen Pflanzen riefen die Pfleger in den Parkgärten um Hilfe und gaben vor, vom Unkraut bedroht zu sein. Sofort erscheinen riesige Hände und suchten die ganze Gegend nach dem betreffenden Gewächs ab, mit dem Ziel es auszureißen!

Nun war das Leben von Fräulein Unkraut in Gefahr. Rasch floh sie zu ihrer Freundin Frau Rose, die sie an einen sicheren Ort bracht. Ihre Setzlinge waren bereits dem Unkrautvernichtungsmittel zum Opfer gefallen.

Darauf hatten die umherwachsenden Pflanzen nur gewartet und versperrten ihr den Weg. Wenn Frau Rose auch jetzt nichts sagen würde, was los war, dann würde Fräulein Unkraut der Schere zum Opfer fallen. Drohend bildeten sie eine undurchdringbare Mauer aus bösen Pflanzen.

Deshalb brach Frau Rose am Ende ihr Schweigen. Sie war um Fräulein Unkraut so bemüht, da es sich bei der Dame um ein sehr altes Gewächs handelte, welche Dinge gesehen hatte, die es heute gar nicht mehr gab: Eine Zeit ohne Gärtner, eine wilde Zeit in der freien Natur voller Geheimnisse – guter wie schlechter.

Frau Rose, die seit ihrer Blütenöffnung immer nur gehegt und gepflegt worden war, sehnte sich nach Natürlichkeit. Und bei Fräulein Unkraut musste sie nicht die feine Gastgeberin spielen, die bei der Tischgesellschaft erwartet wurde. Fräulein Unkraut war vielleicht nicht unbedingt vorzeigbar, dafür jedoch echt und dauerhaft. Mit Schrecken erfuhren die meisten Pflanzen von Fräulein Unkraut, dass die meisten von ihnen den nächsten Winter nicht überstehen würden, da man sie allein wegen ihres schönen Aussehens gepflanzt hatte und nicht wegen ihrer Widerstandskraft. Fräulein Unkraut war älter als alle Gärtner der Gegend. Und auch Frau Rose war alles andere als harmlos: sie hatte Dornen zur Verteidigung! Etwas trübsinnig und eingesunken öffnete sich die Mauer, und Fräulein Unkraut suchte ihr Heil in der Flucht.

Die nächsten Nächte waren sehr unterkühlt und die Gartenparties waren nicht mehr so unbeschwert wie früher. Einige Blumen schämten sich für ihr Verhalten, andere fürchteten ihr bevorstehendes Ende.

Viele Wochen später erfuhr Frau Rose von einem umherreisenden Sandkorn, dass Fräulein Unkraut mittlerweile ein neues Zuhause gefunden hatte: auf einem Hügel in der Nähe eines Bauernhofes, auf einer Wiese, auf dem viele Maulwürfe lebten. Wenn der Bauer dadurch nicht gestört wurde, dann würde ein Unkraut mehr oder weniger nicht auffallen!