Schlaflose Nächte in der Mondscheinstraße 7
Vorwort
Schlafen ist wichtig. Ohne den Schlaf gäbe es zwar auch keine Albträume, dennoch können wir unmöglich auf ihn verzichten.
Leider gibt es Menschen, die genau dieses Problem quält, nämlich: schlaflose Nächte. Es gibt viele Erklärungen für dieses Phänomen. Manche davon sind eine bevorstehende Klassenarbeit, Familienstreit, der auf dem Herzen liegt oder auch Vollmond. Ja Vollmond! Auch wenn sie nicht den Mond anheulen, regelmäßig zum Zahnarzt gehen, Silberkugeln meiden und beginnen, Enthaarungscreme zu verwenden, so gibt es doch gewisse Personen – auf gut deutsch – anonyme Bekannte, die von den wechselnden Mondphasen beeinflusst werden. Den bedauernswerten Opfern hilft diese Erklärung in den meisten Fällen jedoch herzlich wenig: Wie Zombies wandeln sie schlafwandlerisch herum und erkunden nachts das Haus.
Im Gegensatz zum Discogänger, der nachts sein Heim verlässt und Parties aufsucht, um nächtelang durchzufeiern, können Schlafwandler dieser Unterart nur selten entscheiden, ob sie nun zu Bett gehen oder wach bleiben sollen. Meistens versuchen sie, mittels altehrwürdiger Hausriten und Stammesrezepte irgendwie doch noch den Sandmann zu besänftigen, dass er sich ihrer erbarmt. Dazu gehören das klassische „Schafe zählen“, Liegestützen und Lesen.
Manche Menschen sind sogar so verzweifelt, dass sie tatsächlich den Fernseher einschalten und verschiedene Kanäle durchzappeln, was natürlich nur noch mehr unerwünschte Informationen ins überfüllte Gehirn zwingt und die Schlaflosigkeit so verlängert.
Ludwig Ebert
Als interessantes Beispiel nenne ich einmal das Schicksal des armen Herrn Ludwig Ebert* (*Name wurde von der Redaktion geändert). Herr Ebert lebte im Erdgeschoss des Mehrfamilienhauses in der Mondscheinstraße 7.
Er hatte fünf Katzen, mit denen er sich tagsüber einen kleinen Privatkrieg leisten musste. Außerdem betreute er noch seinen einjährigen Sohn, der mit Vorliebe stundenlang schrie. Zusätzlich musste er sich auch um seinen pinkelfreudigen Dackel Lester kümmern.
Es wundert nicht, dass er nachts vollkommen erschöpft ins gemütliche Bett wankte, um seinen wohlverdienten Schlaf zu bekommen. Doch dieser wollte ihm irgendwie nicht zuteil werden. Zwar steht ein ausgewogener Schlaf nicht unbedingt in den klassischen Menschenrechten, doch Herr Ebert empfand dies so. Sein Schlaf war ihm heilig! Jeder der ihn daraus riss, war sich seines Zornes sicher!
Sein heutiger Herausforderer war der Wasserkran. Er tropfte bedeutungsschwer vor sich hin. Murrend stand Herr Ebert auf und drückte den Hahn zu, bis der Tropfen verklang. Erleichtert legte der mittelalterliche Herr sich ins Bett zurück.
Einst hatte er gehört, das Paradies sei die unberührte Natur und der dichte Regenwald. Aber Ebert wusste es besser. Er war selbst schon einmal stundenlang durch das dichte Blätterwerk marschiert, und eins war ihm danach eindeutig klar: Das Paradies musste ein Bett sein! Derselbe Gedanke kam ihm auch jetzt, und er legte sich mit einem Ausdruck großer Zufriedenheit auf die Bettdecke.
Plötzlich wurde die Stille von dem Song „New Rebels“ jäh unterbrochen. Einige jugendliche Rebellen hatten sich unterhalb seines Schlafzimmers verbarrikadiert und wollten ein Zeichen setzen, indem sie um Mitternacht herum ihren Lieblingssong auf volle Lautstärke stellten.
So zu tun, als wäre Herr Ebert von diesem Krach etwas beunruhigt worden, ist in etwa so, als würde man jemandem, der an einem Zementblock gefesselt ist und von der Mafia am Hafen verschnürt wird, sagen, es könnte gleich „etwas feucht“ werden. Herr Ebert überlegte keine Sekunde lang, was er zu tun hatte. Er griff sich die kleine eingesperrte Axt für den Notfall bei Feueralarm, riss sie aus der Wandhalterung und rannte die Treppe nach unten. Dabei hatte er es so eilig, dass er darauf verzichtete, die Tür erst aufzuschließen. Mit Hilfe seiner Axt schlug er sich den Weg nach draußen frei.
Als die Tür endlich nachgab, war er inzwischen wieder zu klarem Verstand gekommen. Wahrscheinlich half ihm dieser Umstand aus der Klemme, da auch die anderen Mieter den Krach nicht länger ertragen konnten. Eine wütende, zutiefst unausgeschlafene Meute von sehr zornigen Erwachsenen, hämmerte gegen die Wohnung der jugendlichen Rebellen und verlangte ihre Ruhe zurück. Die Hausmeisterin war auch schon zur Stelle und schloss die Haustür auf, um die inzwischen eingetroffene Polizei hereinzulassen.
Einer der Polizisten entdeckte in einem der Jugendlichen seinen eigenen Sohn wieder, und seine Kollegen mussten einschreiten, ehe es für ihn zu einem persönlichen Fall geworden wäre.
Herr Ebert bekam von diesem ganzen Umstand jedoch überhaupt nichts mehr mit. Er hatte sich, kaum dass Ruhe eingekehrt war, aufs naheliegende Sofa geschleppt und war mitsamt der Axt in der Hand eingenickt. Zu seinem Glück bemerkte kein Einbrecher in dieser Nacht die offene Wohnungstüre. So konnte er am nächsten Morgen – mit deutlichen Kopfschmerzen – eine neue Wohnungstür bestellen.
Außerdem legte ihm sein Gewissen nahe, dass er sich doch lieber einen Boxsack für solche Fälle bestellen sollte! Mittlerweile schrie sein einjähriger Sohn wieder. Die fünf Katzen randalierten. Dackel Lester war wieder inkontinent. Der tägliche Alltag hatte ihn somit wieder.
Franz Stuller
Ein weiteres Beispiel stellt der Nachbar Franz Stuller* (*auch dieser Name wurde von der Redaktion geändert) dar, der im selben Gebäude in der Mondscheinstraße 7 lebte, allerdings ganz oben unter dem Dach. Stuller galt als der Kinderschreck des Hauses, was schon durch seine äußere Erscheinung bedingt war. Er war lang und dünn, trug stets schwarze Kleidung und eine Sonnenbrille, hatte Bartstoppeln und ein schattiges Gesicht.
Man munkelte, er sei in einem früherem Leben ein Vampir gewesen. Tatsächlich war Stuller ein Nachtmensch. Vielleicht ist jetzt der richtige Moment zu erklären, welchen Beruf er überhaupt hatte: Er arbeitete im Beerdigungsinstitut „Schöne Grüße“. Dazu quetschte er sich in die feinen schwarzen Anzüge, die auch seine Kunden in ihrer letzten Stunde zu tragen pflegten.
Bereits sein Vater hatte diesen Beruf ins Auge gefasst – er war jedoch Friedhofsgärtner geworden.
Stullers größtes Problem war seine Vorliebe für Musik, die er bei der Arbeit aber nicht ausüben konnte. Er hatte einmal versucht, beim Verkauf eines Sarges Violine zu spielen, doch seine Kundschaft hatte das immer falsch aufgefasst. Die netten Witwen oder Großmütter, die seinen Laden betraten, bekamen bereits Kreislaufprobleme, wenn aus den Särgen ihrer Verblichenen das Läuten eines Hanyds erklang, obwohl das für Jugendliche eine normale Sache war, immer ein eingeschaltetes Handy mit geilem Klingelton in der Tasche zu haben. Und die Leichenträger waren mittlerweile so gut bezahlt, dass sie sich Diebstähle dieser Art verkniffen.
Da Franz Stuller während der Arbeit also seiner Leidenschaft nicht fröhnen konnte, versuchte er sein möglichstes, um wenigstens nachts seinen Bedarf an Musik aufzuholen. Anfangs war er mit Trompete im Hausflur herumgetanzt. Er musste dann anschließend in der Nervenheilanstalt nachweisen, dass sein Beruf ihn nicht in den Wahnsinn getrieben hatte. Die Ignoranz der Polizei ging ihm gehörig auf die Nerven. Er war ein deutscher Staatsbürger, er hatte Rechte! Schließlich ließen sie ihn gehen, beschlagnahmten aber alle Musikinstumente, die sich in seiner Wohnung befanden. Daraufhin besorgte er sich eine Stereoanlage und hörte den ganzen Abend den Song „Wer hat Angst vor Dracula“.
Gerade als er bei dem Teil „im schicha-schubidu-Mondenschein“ richtig loslegen wollte, klingelte das Telefon. Es war sein Chef, der ihm mitteilte, er würde ihm eine Woche Urlaub geben, damit er sich von seinen Eskapasen erst einmal erholen könne. Diese Aussage irritierte Franz zwar ein wenig, doch er beschloss einfach, nach dem Auflegen weiterzutanzen. Er hatte ohnehin nicht vorgehabt, am nächsten Morgen zur Arbeit zu gehen.
Leider durfte Stuller auch die nächsten Nächte nicht laut durchfeiern, weil unter ihm die Hausmeisterin des Hauses wohnte. Mit ihrem Besen hatte sie schon mehrmals ein Loch durch den Deckenboden geschlagen, wenn es ihr zu unruhig wurde. Um ehrlich zu sein, war Stuller fast dankbar für diese Ruhepause, denn er hatte seit zwei Tagen nicht mehr richtig geschlafen und gegessen.
Um seiner Musikleidenschaft treu bleiben zu können, griff Stuller zu einer List: Er kaufte sich Kopfhörer und beschloss, bei der Arbeit Musik zu hören, damit er nachts wieder schlafen konnte. Seine Kunden stellten ohnehin immer dieselben Fragen, so dass er die Antworten alle parat hatte. Der Plan funktionierte anfangs ganz gut. Doch die Rückfahrt von der Arbeit nach Hause mit Umsteigen in einen anderen Bus erschien ihm plötzlich viel gefährlicher, wenn man halbtaub war. Als er zum siebten Mal fast von einem hupenden Auto angefahren worden war, beschloss Franz Stuller schweren Herzens zu akzeptieren, dass Musik vielleicht doch nicht so sein Ding war!
Nachwort
Wie Sie festgestellt haben, liebe Leserinnen und Leser, liegt das Problem der Schlafstörung nicht immer beim Menschen selbst. Einige provozieren mit ihren Handlungen – wie bei Herrn Stuller – gewisse Situationen herauf, andere – wie Herr Ebert – sind ihnen hilflos ausgeliefert.
Vielleicht gibt es ja auch in Ihrem Leben ähnliche Situationen, die Sie noch niemals jemandem erzählt haben.