Deutsche Metaphern
Mein Name ist Simem, und ich komme von der kleinen Insel Kalpalko im Indischen Ozean. Aus wirtschaftlichen Gründen bin ich von meinem Stamm getrennt und nach Deutschland verschifft worden. Hier habe ich viele interessante und manchmal auch schöne Erlebnisse mit der deutschen Sprache erfahren.
Anders als bei meiner Muttersprache – meine Mutter lebt noch auf Kalpalko – ist die deutsche Sprache sehr mehrdeutig und voller Metaphern. Vieles wird hier nicht so gemeint, wie es gesagt wird. Diese Redewendungen werden hier auch als „geflügeltes Wort“ bezeichnet.
So verwarnte mich ein deutscher Lehrer wegen meiner „Eselsohren“. Ich sah mich daraufhin erstaunt im Spiegel an, fand aber keinen Esel oder einen Menschen mit eselähnlichen Ohren. Überraschenderweise war damit aber eine Seite meines Mathematikbuches gemeint, die nicht gut behandelt worden war.
Ein deutscher Mitschüler erzählte mir am gleichen Tag, dass er in der Schule manchmal ein „Brett vorm Kopf“ habe. Auch hier war ich ganz erschüttert. Ich habe lange nach dem Brett gesucht, es aber nie gesehen!
Vor einiger Zeit erzählte mir ein anderer deutscher Junge, dass er nun endlich „Nägel mit Köpfen“ machen wollte. Ich fragte ihn, ob er dafür einen Hammer benötigte. Aber er erklärte mir, dass dafür kein Werkzeug nötig wäre. Einen Hammer wollte er jedenfalls nicht haben.
Merkwürdig fand ich eine Gegebenheit, als ich einmal etwas über mich erzählte. Da meinte meine Lehrerin, dass sich „der Esel immer zuerst nennt“. Wieso ein Esel? Erneut war ich verwirrt. Wo war hier schon wieder ein Esel? Es ging doch nur um mich! Ein bisschen beleidigt war ich schon…
Ein anderer Lehrer forderte mich auf, in meinem Leben mehr „Grenzen zu überschreiten“. Ich dachte eigentlich immer, dass ich durch meine lange Anreise aus Kalpalko schon genug Grenzen anderer Länder überschritten hätte; aber das war gar nicht Sinn dieser Aussage. Es bedeutete, dass ich mich mehr trauen sollte, um Neues auszuprobieren!
Einer sehr unbeliebten Lehrerin wurde nachgesagt, sie „habe Haare auf den Zähnen“. Aber ihre schneeweißen Zähne sahen sehr gepflegt aus, und es gelang mir nicht, irgendein Haar dort zu entdecken!
Viele dieser deutschen Redewendungen scheinen einen historischen Hintergrund zu haben. Als ich einmal vor der Klasse begeistert von meiner alten Heimat erzählt hatte, meinte ein Mitschüler verdrießlich, ich solle mir „Asche aufs Haupt“ (also auf die Haare) streuen und bereuen. Vielleicht haben das die Menschen hier früher wirklich einmal gemacht – es gibt ja in Deutschland den „Aschermittwoch“.
Ein anderes Mal meinte ein Mitschüler, dass ich wohl „chinesisch“ sprechen würde, denn er hatte nichts von dem verstanden, was ich ihm erklärt hatte. Dabei kann ich gar kein chinesisch! Auch in meiner Heimat sprach niemand chinesisch!
Vor einiger Zeit hatte mein deutscher Freund seine erste Arbeitsstelle gefunden, weil er die Schwelle zum Erwachsenendasein übertreten hatte (was ja streng genommen keine große Leistung war, da wir alle einmal älter werden). Leider hatte er große Probleme, sein Geld gut einzuteilen. Andere Freunde erklärten mir, dass er sein
„Geld aus dem Fenster werfen“ würde. Das fand ich äußerst dumm von ihm, zumal das Geld hier selten auf der Straße liegt.
Ein anderes Zitat, was ich aber inzwischen selbst gerne verwende, besagt, dass man den „Pfennig genauso würdigen soll wie den Taler“ (heute sind damit wohl eher Cent und Euro gemeint).
Wie alle Menschen aus Kalpalko male ich sehr gerne. Als ich mich mit einem deutschen Mädchen darüber unterhielt, sagte sie mir, dass sie leider zwei „linke Hände“ hätte und deshalb nicht so gut zeichnen könne. Aber darin sah ich überhaupt kein Problem. Man kann doch auch mit links zeichnen. Es gibt viele künstlerisch begabte Linkshänder! Das Mädchen lachte über meine Erklärungsversuche, denn auch sie hatte es – wieder einmal – nicht Ernst gemeint mit dem, was sie sagte!
Hier muss ich noch viel lernen, denn die deutsche Sprache ist voller geheimnisvoller Bilder, die es noch zu ergründen gibt!