Von einem der auszog, die Bücher zu finden
In einem kleinem Dorf, irgendwo in der Gegenwart, wo es schien, als sei die Zeit stehengeblieben, gab es einen Jungen namens Dietwald. In diesem Ort herrschte Ruhe und Frieden, Hektik gab es kaum. Hier stand nur ein Lebensmittelgeschäft und viel Natur. Es fuhren Trecker, Pferdekutschen und andere altmodische Fahrgeräte über die Straßen. Der Dorfbrunnen war so sauber, dass daraus getrunken werden konnte. Jeder kannte jeden, man vertraute einander und half sich gegenseitig aus.
Hier lebte Dietwald. Er unterschied sich von den anderen Kindern, denn er hatte bereits von Kind an eine seltsame Neugier. Als er im Alter von sieben Jahren mit seiner Mutter das erste Mal die weit entfernte Großstadt besuchte, bekam er einen gehörigen Schock: Solche Autos und solche Gebäude hatte er noch nie zuvor gesehen!
Doch plötzlich begann er, innerzuhalten. Etwas Besonderes lag in der Luft. Irgendein seltsamer Hunger hatte böswillig von ihm Besitz ergriffen. Seine Mutter musste ihn hinter sich herziehen, doch es war bereits zu spät!
Er blähte seine Nasenflügel und nahm die Witterung auf. Irgendwo mussten sie sein, da war er sich ganz sicher. Eine Frau, die einen dicken Wälzer unter dem Arm trug, bestätigte seine Vermutung: Er war auf der richtigen Fährte!
Endlich hatte er sie gefunden! BÜCHER!
Die Buchhandlung erstreckte sich über mehrere Etagen. Er fühlte sich wie ein kleines Kind im Süßwarenladen. Dies war sein Reich! Er musste gar kein Buch kaufen, es reichte aus, wenn er sich durch diese Korridore bewegen konnte und den Duft der Literatur aufsaugen durfte.
Schon der Einband eines Buches war phantastisch! Dietwald konnte sich stundenlang damit beschäftigen. Der Duft der Zellulose faszinierte ihn. Beim Lesen versank Dietwald ganz in andere Welten. Sein Körper war zwar noch anwesend, aber seine Seele tauchte in die magische Welt der Bücher ein. Für die Außenwelt schien er bewegungslos geworden zu sein und musste geweckt werden. Leider zerrte Dietwalds unwissende Mutter ihn bald davon, weil er sich nicht für eines der vielen Bücher entscheiden konnte.
Doch dieses Erlebnis reichte Dietwald nicht. Es zog ihn immer wieder dorthin zurück. Fortan besuchte er heimlich die Buchhandlung so oft es ging. Seine Mutter wurde schon misstrauisch, weil er immer den ganzen Tag unterwegs war.
Auch ansonsten war seine Mutter nicht begeistert davon, dass Dietwald seine Wäsche im Schrank schlechter behandelte als jedes einzelne Buch. Für Dietwald waren seine Bücher zu Familienmitgliedern geworden und mussten gut behandelt werden. Bücher waren für ihn einfach wichtiger – dem Fernsehen zog er sie auf jeden Fall vor! Er las sogar Bücher zu Filmen, um mehr Hintergrundinformationen zu den Charakteren zu erhalten.
Die Bücher als die ältesten Reliquen des Menschen hatten ihn in ihren Bann gezogen. Dietwalds ausgeprägte Begeisterung für die alten Wälzer blieb nicht unbeachtet. Eines Tages fragte ihn der Buchhändler vor Ladenschluss, ob er hier vielleicht übernachten wollte. Dieser Gedanke gefiel Dietwald durchaus, doch dann wollte ihn der Buchhändler aber doch nicht alleine mit den Büchern einschließen.
Seine Mutter und seine Lehrer, die diese Leidenschaft beobachtet hatten, rieten Dietwald, er solle zur Abwechslung zum Fußball gehen oder in die Disko. Beides gefiel Dietwald überhaupt nicht, denn er bekam dort das Gefühl, er sei da unerwünscht!
Also wandte er sich wieder seinen wichtigeren Dingen zu – den Büchern!
Seine Schullaufbahn wurde trotz alledem nicht von ihm vernachlässigt – im Gegenteil- durch seine Lesefreude erhielt er jetzt im Deutschunterricht gute Noten und hatte einen exzellenten Ausdruck.
Dietwald besuchte weiterhin täglich die Buchhandlung. Einmal erwies er sich sogar als Retter in der Not, als ein schlechtgelaunter Kunde ein bestimmtes Buch suchte, dessen genauen Titel er nicht kannte, und das deshalb niemand finden konnte. Dietwald dagegen kannte jedes Buch in dem Laden, und konnte dem Angestellten so aus der Klemme helfen. Seitdem wurde er dort stets mit offenen Armen willkommen geheißen! Mittlerweile kannten alle Mitarbeiter auch seinen Namen.
Dietwalds Berufswunsch war natürlich mit dem Buch verbunden. Deshalb machte er in späteren Jahren ein Praktikum in der Buchhandlung. Hier hielt ihm der Chef jedoch öfters eine Standpauke, weil er die ausrangierten Bücher fürs Antiquatiat lieber las anstatt sie zu schleppen. Diese körperliche Arbeit war nicht das, was sich Dietwald gewünscht und vorgestellt hatte.
Trotzdem ging er auch regelmäßig weiter in seine Buchhandlung und kaufte sich immer wieder neue Bücher, damit er sich länger dort aufhalten konnte. Diese Leidenschaft hielt an.
Später als Erwachsener machte Dietwald als Bücherexperte selbst einen kleinen Bücherladen in seinem Dorf auf. Hartnäckig – wie er war – hatte er nicht aufgehört, von einer eigenen Buchhandlung zu träumen. Hier las er nun regelmäßig der Dorfjugend die Abenteuer von Alice im Wunderland, Robinson Crusoe, Bastian Balthasar Bux, dem Sams und anderen Helden vor. Auch die älteren Dorfbewohner suchten nun häufig Dietwald in seiner Buchhandlung auf und wagten sich hin und wieder sogar an ein berühmtes literarisches Buch heran!
In dem kleinen Dorf, irgendwo in der Gegenwart, war die Zeit nicht mehr stehen geblieben.